Für die ÄrzteZeitung ist diese Studie „Nobelpreis-verdächtig“, in der britischen Presse wird sie als „Watershed Moment“, als Wendepunkt bezeichnet: Englische Forscher haben im Rahmen der DiRECT-Studie mit einem intensiven Programm zur Gewichtsreduktion in Hausarztpraxen bei übergewichtigen Typ-2- Diabetikern spektakuläre Ergebnisse erzielt: Bei fast jedem zweiten Behandelten war nach einem Jahr der Diabetes verschwunden. Dazu brauchte es nichts anderes als eine konsequente Ernährungstherapie (unter Verwendung einer Formula-Diät) und die entsprechende fachliche Begleitung durch geschulte Beratungskräfte. Endlich wird belegt, was für viele Experten schon seit langem offensichtlich ist (..mehr Fakten zum ‘Diabetes Remission Clinical Trial’ (DiRECT) siehe z. B. im Beitrag auf der Seite docFood).
Doch bei aller Zuversicht, die die Studie weckt: Ihre Ergebnisse mögen Nobelpreis-verdächtig sein, entbehren aber nicht einer gewissen Tragik. Schließlich wird der direkte Zusammenhang zwischen Ernährung, Übergewicht und Diabetes von einer ganzen Riege renommierter Ernährungswissenschaftler und Ernährungsmediziner seit einem halben Jahrhundert postuliert, während Schulmedizin, Diabetologie und Pharmaindustrie die entsprechenden Hypothesen und Daten seit jeher stumpf ignorieren. Sollten die Ergebnisse der Studie reproduzierbar sein – woran wenig Zweifel besteht –, müssen sich alle Beteiligten der Frage stellen: Wieviel Leid bei Millionen von Betroffenen hätte man vermeiden und wie viele Milliarden an Kosten hätte man einsparen können durch eine konsequente Ernährungstherapie. Um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen: Schon vor 50 Jahren warnte der englische Forscher John Yudkin vor dem Zusammenhang zwischen kohlenhydratreicher Ernährung, Übergewicht und Diabetes. Einflussreiche Gegner brachten ihn zum Schweigen. Ende der 70er Jahre formulierten die Verfechter der Vollwert-Ernährung um Prof. Claus Leitzmann die These vom unmittelbaren Zusammenhang zwischen hyperkalorischer, kohlenhydratreicher Ernährung und Diabetes. Während der vergangenen 30 Jahre fand sie in Deutschland in abgewandelter Form einen unermüdlichen Verfechter in dem Low-Carb Protagonisten Prof. Nicolai Worm. All deren Argumente wurden über Jahrzehnte immer wieder vom Tisch gewischt. Zwar fokussiert die aktuelle Studie nicht auf Zucker bzw. Kohlenhydrate und liefert deshalb auch keinen Beweis für die ‚Schuld‘ von Zucker & Co. Trotzdem beweist sie die kausale Beziehung von Diabetes und Übergewicht und damit falscher Ernährung. Falls es nun zum Nobelpreis käme: Den sollten statt der Autoren der Studie wohl eher jene Ernährungswissenschaftler erhalten, die seit Jahren auf die zentrale Bedeutung der Ernährung in der Prävention und Therapie des Diabetes hingewiesen haben.
Tatsächlich gibt es – man höre und staune – sogar den einen oder anderen Mediziner, der den Sachverhalt anerkennt und nach Konsequenzen ruft. Professor Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums (WDGZ) in Düsseldorf, schreibt in seinem Kommentar in der ÄrzteZeitung: „Einer der ‚Glaubenssätze‘ der Diabetologie ist: Einmal Diabetes – immer Diabetes. Für übergewichtige Personen mit Typ-2-Diabetes, die 90 Prozent der Diabeteserkrankungen ausmachen, gibt es aufgrund der aktuellen Publikation neue Hoffnung.“ Nach Martins Erachten „müssen sich die Beteiligten auf ärztlicher Seite, aber auch die Gesundheitspolitik von der 68er Mentalität lösen, dass jeder seinen Körper zugrunde richten darf, denn wenn es irgendwann nicht mehr funktioniert, finanziert das Solidarsystem schon die entsprechenden Medikamente.“ Die steigende Prävalenz der Adipositas, in deren Folge sich der Typ-2-Diabetes bildet, bringt nach Auffassung Martins nicht nur unser Gesundheitssystem an die Grenzen der Finanzierbarkeit, sondern stellt ein weltweites Problem dar. Dagegen zeige die englische Studie, „dass es eine Hilfe zu Selbsthilfe gibt, die die Betroffenen in eine Remission des Typ-2-Diabetes führen kann.“
Was muss nun eigentlich noch passieren, damit Gesundheitspolitik und Gesundheitssystem der Ernährungstherapie des Typ 2 Diabetes Priorität einräumen? Vermutlich kann passieren was will – ändern wird sich trotzdem nichts. Dass die ‚neuen‘ Erkenntnisse tatsächlich zu tiefgreifenden Veränderungen in der Therapie von Diabetikern führen, muss man bezweifeln. Tatsächlich stehen Patientenschulung, Ernährungstherapie und Steigerung der körperlichen Aktivität in der Basistherapie, wie sie von der Nationalen VersorgungsLeitlinie Typ-2-Diabetes empfohlen wird, an erster Stelle. Demnach soll eine medikamentöse Therapie mit Antidiabetika (meist mit Methformin) frühestens dann beginnen, wenn diese Maßnahmen erfolglos bleiben. Die meisten Mediziner scheren sich offensichtlich wenig darum: „Angesichts der bekannten, fast regelhaft vorliegenden Schwierigkeiten, Patienten mit Diabetes Typ 2 zu einer nachhaltigen Lebensstil-Modifikation inkl. wirksamem Ernährungs- und Gewichtsmanagement zu bewegen, wird diese Leitlinienempfehlung aber oft fast als ‚pro forma‘ angesehen,“ kommentiert Prof. Martin Smollich, Fachapotheker für Klinische Pharmazie und Professor für Clinical Nutrition in Rheine, den Sachverhalt in seinem „Ernährungsmedizinblog“.
Hinter der aktuellen Behandlungspraxis stecken auch mächtige wirtschaftliche Interessen. Dabei wäre das knappe Geld im Gesundheitssystem nach Smollichs Ansicht in diätetischen Interventionsprogrammen um ein Vielfaches sinnvoller eingesetzt als in der Entwicklung und im Marketing immer neuer Antidiabetika oder in der Behandlung potenziell vermeidbarer Diabetes-Spätfolgen. Der kritische Pharmazeut bezweifelt deswegen, dass die Studie etwas ändern wird, denn „die Gewinne der pharmazeutischen Industrie auf diesem Feld werden Motivation genug dafür sein, um die politische Lobbyarbeit wie gewohnt effektiv weiterzuführen.“ Nach Angaben des Deutschen Gesundheitsberichtes „Diabetes 2016“ belaufen sich die diabetesbezogenen Kosten bei den Krankenkassen auf derzeit jährlich 21 Milliarden Euro – ca. 11% der Krankenversicherungsausgaben insgesamt. Der Anteil der Arzneimittel daran dürfte nach Schätzungen ca. 5 Milliarden Euro betragen. Ein Umsatz, der sich mit Formula-Diäten nur schwerlich erzielen lässt, nicht einmal, wenn sich auch noch der letzte Diabetiker einer Diät mit den entsprechenden Formula-Produkten unterzieht. Dabei sind viele andere Wissenschaftler und Mediziner gemeinsam mit Smollich der Ansicht, dass die Ergebnisse der Studie stichhaltige Argumente für eine drastische Kehrtwende in der Diabetes-Therapie und –Prävention liefern. Es ist Zeit für einen Wendepunkt in der Diabetes Therapie! – Wann, wenn nicht jetzt?
Hallo zusammen,
sehr spannender Artikel! Als Typ-1 Diabetikerin kenne ich die angesprochenen Problematiken seit Jahren aus erster Hand…
Obwohl Ernährung ja oftmals mit Typ-2-Diabetes in Zusammenhang gebracht wird, stehe ich hier als Typ-1-erin regelmäßig vor großen Herausforderungen.
Solltet ihr an einer einfachen und diabetesgerechten Ernährungslösung interessiert sein, kann ich euch sehr https://www.healivery.de/ ans Herz legen. Bei healivery können verschiedene Koch- und Snackboxen ausprobiert und Rezeptinspirationen gefunden werden 🙂
LG, Lisa
Es ist eine weiter Arbeit von von Roy Taylor erschienen, die Ätiologie, Hintergründe und Diät-Aspekte zur DiRECT-Studie beleuchtet:
link.springer.com/content/pdf/…7%2Fs00125-017-4504-z.pdf
Und hier äußert er sich auch dezidiert zu Anschluss-Diäten – und es scheint, dass er eine mediterrane Low-Carb-Ernährung favorisiert:
“…A combined Mediterranean and carbohydrate-restricted diet may be particularly beneficial for those for whom weight loss has not resulted in diabetes remission, almost halving the
need for diabetes drugs over 4 years following diagnosis of type 2 diabetes [60]…….Low-carbohydrate, Mediterranean and intermittent-fasting diets have an evidence base to
justify use to minimise weight regain…”
Im Flexi-Carb-Konzept bzw. in der Flexi-Diät vertreten wir bekanntlich die Kombination aus allen drei Varianten: Mediterrane Low-Carb-Ernährung und lange Mahlzeiten-Abstände.
Na, dann reicht mir doch bitte den Nobelpreis rüber. Ich teile ihn auch gerne mit Sonja Mannhardt und allen Kolleginnen und Kollegen, die in den letzten 25 Jahren Hunderte von Patienten vom Insulin und meist auch ihren Diabetesmedikamenten “herunter” geholt haben. Das ging natürlich nur durch konsequente Missachtung der diabetologischen Leitlinien und das gab Ärger. Nicht zu knapp.
P.S.: Nach Auskunft von Roy Taylor ist zu dieser Studie eine weitere Publikation in Vorbereitung, die auf die Pathophysiologie eingeht. Taylor hatte je bereits in kleineren Studien belegt, dass es genau genommen nicht um “Abnehmen” geht, sondern um die Unterschreitung einer individuellen Verfettungsschwelle, wobei die beiden entscheidenden Organe Leber und Bauchspeicheldrüse sind. Sofern diese entfetten kann man ihre Funktionsfähigkeit wieder herstellen – vorausgesetzt man fängt frühzeitig genug an und wartet nicht, bis beide Organe völlig “fertig” sind…
P.S.: Nach Auskunft von Roy Taylor ist zu dieser Studie eine weitere Publikation in Vorbereitung, die auf die Pathophysiologie eingeht. Taylor hatte je bereits in kleineren Studien belegt, dass es genau genommen nicht um “Abnehmen” geht, sondern um die Unterschreitung einer individuellen Verfettungsschwelle, wobei die beiden entscheidenden Organe Leber und Bauchspeicheldrüse sind. Sofern diese entfetten kann man ihre Funktionsfähigkeit wieder herstellen – vorausgesetzt man fängt frühzeitig genug an und wartet nicht, bis beide Organe völlig “fertig” sind…
Vielen Dank für die Blumen! Was ich noch erwähnen möchte:
Mahlzeitenersatz mit einer guten Formula – anfangs 3 x am Tag und in späteren Phasen nach individuellem Bedarf – hat sich in zahlreichen Studien (und Meta-Analysen der Studien) als überlegen gegenüber energiereduzierten herkömmlichen Diäten auch über den Zeitraum von 3 bis 4 Jahren gezeigt. Dennoch sind „Formula“-Diäten in der Ernährungsberatung als reine Geschäftemacherei stigmatisiert. In der DiRECT-Studie war die Anschluss-Ernährung “altmodisch” fettarm/kohlenhydratbetont, weil sie so seit Jahrzehnten von dem Hersteller der verwendeten Formula unkritisch vertreten wird und dieses Konzept so bereits in der Organisation etabliert war. Ich habe mich vor einigen Tagen mit Prof. Roy Taylor, dem Studienleiter von DiRECT, kurzgeschlossen und er hat eingeräumt, dass er lieber eine alternative Folgeernährung eingesetzt hätte.
Wir verwenden in unserem „Leberfasten“-Konzept eine mediterrane Low-Carb Ernährung als Anschluss-Kost, weil hierfür die beste Evidenz vorliegt… Siehe auch hier: https://circ.ahajournals.org/content/early/2017/11/14/CIRCULATIONAHA.117.030501.long
Und das Argument, dass die Formula-Phase teuer sei ist lustig: Umgerechnet kostet eine Mahlzeit etwa 3 Euro. Da man das eine Weile an Stelle von “natürlichen” Nahrungsmittel isst, dürfte man im Endeffekt sogar Geld sparen. Außerdem ist eine derart niedrige Energiezufuhr in der ersten Phase über natürlich Nahrungsmittel immer mit einem Nährstoffedefizit verbunden… Entscheidend ist die Compliance – nicht nur während der Formula-Phase, sondern auch danach für die Anschlussernährung. Das ist eine wichtige Aufgabe für erfahrene Ernährungsberater – nicht umsonst sind in den Studien die besten Erfolge zu sehen, wenn die Probanden/Patienten in eine Langzeitbetreuung kommen…
Meine prof e.a.t. Kollegen und ich posten regelmäßig – ohne Namen zu nennen “spektakuläre” Laborzettel von Patienten, die in die Ernährungstherapie kamen. In nur 3-4 Sitzungen innerhalb von 3-4 Monaten ist meist der Diabetes verschwunden – auch ohne Formuladiäten! 3-4 Stunden Ernährungstherapie und der Diabetes ist WEG…..Das kostet quasi nichts und Medikamente sind auch keine mehr nötig…..
Doch viel lukrativer scheint es zu sein, solchen Patienten Medikamente zu empfehlen oder – auch keine Seltenheit mehr – sich einer bariatrischen Operation zu unterziehen, damit “der Stoffwechsel geheilt wird” – Man solle sich um das genehmigt zu bekommen in “erfolglose Ernährungstherapie” begeben….so wird bereits manchen Patienten empfohlen… Ein Skandal!
Wir sind mit einigen Krankenkassen in Verbindung und freuen uns über mehr und mehr Unterstützung und Zuspruch, denn auch Krankenkassen sind daran interessiert Kosten zu sparen…Qualifizierte Ernährungstherapie kann dabei helfen 🙂