Kein Genuss ist vorübergehend; denn der Eindruck, den er zurück lässt, ist bleibend.
(Johann Wolfgang von Goethe)
Zu Goethes Zeiten war Genuss offensichtlich noch etwas wirklich Besonderes. Heute, wo alle Genuss (bzw. was man landläufig dafür hält) sofort und immer wollen, bleibt vom Genuss oft nur Überdruss – oder noch schlimmer: Statt bleibenden Eindruck zu hinterlassen, fällt er dem Vergessen anheim. „Wo war das noch, wo wir damals so gut gegessen haben? War das nicht bei diesem – na, wie heißt er noch – der bekannte Sternekoch? Gigantisch gut! War das nicht irgendwas mit Fisch und Meeresfrüchten, was der so toll zubereitet hat. Und dann der wunderbare Wein dazu. Ich meine, das muss ein Riesling gewesen sein – nein, es war ein Weißburgunder – oder war es doch ein Sauvignon Blanc? Na ja, man kann sich nicht alles behalten. Ich erinnere mich noch genau: 380 Euro haben wir dort zu zweit gelassen. Für den netten Service haben wir die 400 voll gemacht. War das ein Genuss!“
O tempora, o mores? Ich bin mir nicht sicher, ob früher genussmäßig alles besser war. Wer damals im Überfluss lebte, dürfte auch dem einzelnen kleinen Genussmoment weniger Aufmerksamkeit geschenkt haben als diejenigen, die nur hin und wieder etwas Besonderes probieren durften. Goethe verstehe ich so, dass Genuss etwas ist, das über den Augenblick hinausgeht – er sagt aber nicht, dass man sich nach Jahren noch detailliert an alles erinnern können muss. Und schließlich: Wenn “alle” (wohl eher nur hierzulande, und auch da wohl nicht alle) dem Genuss nachjagen, heißt das schließlich auch, dass die meisten von uns nicht mehr mit dem reinen Sattwerden beschäftigt sind. Daran kann ich nichts Schlechtes finden.
Kann etwas, das ich permanent habe, das also nicht mehr aus dem Alltag heraussticht, noch Genuss sein? Muss nicht ein (wenig genussvolles) “Nachjagen” schließlich den Genuss mindern? Führt permanenter Genuss nicht zum Überdruss und damit zur Völlerei (diese bekanntlich für Gläubige eine Todsünde)? Solche Fragen stellen sich, wenn man Genuss materiell definiert (alles haben wollen, was gut und teuer ist, und das Haben für Genuss halten). Mir deucht jetzt allerdings, dass Goethe den Begriff vielleicht viel eher als tiefes sinnliches Erleben interpretiert. Der Eindruck, den der Genuss hinterlässt, ist bleibend, meint Goethe. Denken wir an den ersten zarten Kuss. Ein Genuss, der bleibenden Eindruck hinterlässt (..meistens, wenn’s gut geht, kann auch schon mal total schiefgeheen, dann nicht) – und jeder ‘echte’ Genuss sollte ähnlich bleibend sein – oder?
Ich glaube, Genuss liegt in der Geisteshaltung. Mit der richtigen Aufmerksamkeit kann auch ein einfaches Brot mit Butter zum großen Genuss werden. Aber ich gehe davon aus, dass das mit der Geisteshaltung auch zu Goethes Zeiten nicht unbedingt bei allen der Fall war.