Gerade im Netz gefunden: „Corona Kilos sind normal“, gepostet von einer promovierten Ernährungswissenschaftlerin. Ist das nicht ziemlicher Unsinn? Corona Kilos sind sicher verständlich und das Verhalten, das zu diesen Kilos führt, lässt sich plausibel erklären. Aber normal sind sie nicht – oder? Normal ist, was der Norm entspricht. In der Psychologie gilt ein erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten als ‚normal‘ – im Gegensatz zu unerwünschtem, behandlungsbedürftigem, gestörtem, abweichendem Verhalten. Hinter den vielen Corona-Kilos steckt alles andere als ein „erwünschtes, akzeptables, gesundes, förderungswürdiges Verhalten“. So muss die Antwort im psychologischen Kontext lauten: Corona-Kilos sind gar nicht normal.
Aus soziologischer Sicht sieht das paradoxerweise ganz anders aus. Normalität bezeichnet in der Soziologie das Selbstverständliche und Übliche in einer Gesellschaft, das nicht mehr erklärt, über das nicht mehr entschieden werden muss und das als soziale Norm durch Erziehung und Sozialisation vermittelt wird. In dem eingangs zitierten Blogbeitrag heißt es weiter: „Wenn nichts mehr „normal“ läuft, wie soll man da bitte ‚normal‘ weiteressen, ‚normal‘ Sport machen, ‚normal‘ weiterleben?“ Berechtigte Frage! Aber wenn nichts mehr ist, wie es war, muss man die entstehende Leere nicht zwingend mit mehr von dem füllen, was übrig ist – mit Essen oder anderem noch verfügbaren Konsum. Achtsamkeit und Nachhaltigkeit wären beim Essen („Iss so viel wie nötig und so wenig wie möglich) eine gesunde, gute und aus psychologischer Sicht ‚normale‘ Lösung gewesen.
Das hat kaum jemand geschafft, weil unser Essverhalten auch von den (soziologischen) Normen bestimmt wird. Wir leben in einer Konsumgesellschaft, die nur existieren und wachsen kann, wenn die Menschen mehr konsumieren als sie brauchen. So lautet die wichtigste Norm der Konsumgesellschaft “Konsumiere!”. Wir sind geboren, um zu verbrauchen. Essen und Trinken gehört selbstverständlich zu diesem Konsum dazu. Aus dieser Perspektive sind die Corona-Kilos geradezu ‚hochnormal‘ – oder?
Leider ist die ganze derzeitige Situation ja ziemlich unnormal. Ich finde es trotzdem immer wieder erstaunlich, wie schnell man sich an neue Situationen anpasst. Anfangs hatte ich mich gefragt, wie ich das Arbeiten zuhause auf Dauer aushalten soll. Mittlerweile genieße ich es sehr und würde es gerne so beibehalten. Und mit ein paar Tricks kommt man auch gegen die Corona-Kilos gut an!
Ich würde die Frage anders stellen: Sind wir, was unser Essverhalten angeht, immer noch für die Notzeit programmiert, so dass wir bei ausreichendem Nahrungsangebot grundsätzlich mehr essen, als wir verbrauchen? Währen der Corona-Pandemie fiel der Verbrauch bei vielen Menschen durch Home-Office und fehlende Sportangebote noch geringer aus, so dass bei dieser Sichtweise eine Gewichtszunahme plausibel ist. Oder nehmen wir als richtig an, dass die Mehrheit der Menschen normalerweise über eine funktionierende Hunger-Satt-Regulation verfügt und während der Corona-Pandemie ein kollektives Frustessen eingesetzt hat, weil es sonst keine Ablenkung mehr gab. Waren die gemeinsamen Mahlzeiten für viele Menschen eine letztes Stück Normalität, dass jetzt ausgiebiger zelebriert wurde? Ich denke, es sind diese beiden Gründe, die zusammen bei vielen Menschen zur Gewichtszunahme geführt haben.