Für Ernährungsfachkräfte, die im Bereich der Primärprävention aktiv sind, eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten: Seit Anfang Januar 2017 liegt auf der Website des GKV-Spitzenverbandes eine aktualisierte Fassung des Leitfadens Prävention vor, die ab sofort für Anbieter von Präventionskursen verbindlich ist – und damit selbstverständlich auch für alle Ernährungsfachkräfte, die im Bereich der Primärprävention engagiert sind. Für sie definiert der Leitfaden die Rahmenbedingungen im Kapitel zum Handlungsfeld Ernährung. Im Absatz zur „Vermeidung und Reduktion von Übergewicht“ findet sich in dern neuen Fassung eine kleine Änderung, die für Ernährungsfachkräfte große Auswirkungen haben könnte, die allerdings auch viele Fragen aufwirft. Ist das, was geändert wurde, tatsächlich so gemeint, wie es nun dort geschrieben steht, eröffnen sich Ernährungsfachkräften ganz neue Perspektiven und Tätigkeitsfelder.
Worum geht es? In der bisherigen Fassung findet sich im Kapitel 5.6.2 / S. 58 ‚Ernährung‘ im Absatz ‚Präventionsprinzip: Vermeidung und Reduktion von Übergewicht‘ unter dem Stichpunkt ‚Zielgruppe‘ für Präventionsmaßnahmen in diesem Bereich die Definition bzw.Formulierung für die Teilzielgruppe Erwachsene:
Erwachsene: Personen mit einem BMI ≥ 25 bis < 30 (BMI ≥ 30bis <35 nur nach ärztlicher Rücksprache) ohne behandlungsbedürftige Erkrankungen des Stoffwechsels oder psychische (Ess-)störungen.
In der aktualisierten Fassung (jetzt Kapitel 5.4.2 ‚Ernährung‘, S. 62) heißt es nun anstatt dessen:
Erwachsene: Personen mit einem BMI ≥ 25 bis < 30 ohne psychische (Ess-)Störungen, bei BMI ≥ 30 bis < 35 und/oder Vorliegen behandlungsbedürftiger Erkrankungen des Stoffwechsels nach ärztlicher Rücksprache.
Was genau ändert diese neue Formulierung? Entscheidend für die Bedeutung der neuen Formulierung ist die Verwendung der Konjunktionen ‚und/oder‘. Die geänderte Textpassage lässt keine andere Auslegung zu, als dass künftig auch solche Personen Zielgruppe sind, die kein Übergewicht haben, bei denen aber eine behandlungsbedürftige Erkrankung des Stoffwechsels vorliegt. Dass dem so sein muss, leitet sich aus den Regeln der deutschen Sprache ab. Gemäß Duden drücken die Konjunktionen und/oder aus, dass eine Verknüpfung oder eine Alternative angeboten wird. Der Duden gibt dafür folgendes Beispiel:
Geben Sie uns bitte Ihre Adresse und/oder Telefonnummer –
bedeutet im Volltext
Geben Sie uns bitte Ihre Adresse und die Telefonnummer oder nur die Adresse oder nur die Telefonnummer.
Auf den geänderten Text im Leitfaden angewandt, muss der im Volltext heißen:
Zielgruppe sind Personen mit einem BMI ≥ 25 bis < 30 ohne psychische (Ess-) Störungen, (Personen) mit einem BMI ≥30 bis < 35 und Vorliegen behandlungsbedürftiger Erkrankungen des Stoffwechsels oder (Personen) nur mit einem BMI ≥30 bis < 35 oder (Personen) nur mit Vorliegen behandlungsbedürftiger Erkrankungen des Stoffwechsels.
Praktisch würde das also bedeuten: Im Gegensatz zur bisherigen Regelung zählen auch normalgewichtige Menschen mit behandlungsbedürftigen Stoffwechselerkrankungen zu den Zielgruppen der Primärprävention im Bereich der Ernährung. Das scheint geradezu revolutionär. Ab sofort müssten demnach präventiv orientierte Kurse, Konzepte und Maßnahmen für normalgewichtige Menschen mit behandlungsbedürftiger Erkrankung des Stoffwechsels, die ansonsten aber gesund sind, zertifizierungsfähig und damit auch bezuschussungsfähig sein.
Noch ist der Grund für die Textänderung im zitierten Passus das Geheimnis der Autoren. Einen erklärenden Kommentar gibt es bisher nicht. Sinn machen könnte die Regelung allerdings schon – eventuell ist sie mit der Absicht formuliert, durch das Einbeziehen der neuen Zielgruppe in die Primärprävention die Entwicklung von Folgeerkrankungen wie metabolisches Syndrom und Diabetes bei den betroffenen Personen zu vermeiden. Ohne dass sich die Autoren erklären, bleibt diese Interpretation jedoch reine Spekulation.
Allerdings käme die neue Regelung – vorausgesetzt, sie ist wirklich so gemeint, wie es im Leitfaden formuliert ist – einem Paradigmenwechsel gleich: Maßnahmen der Primärprävention sind bisher qua definitionem gesunden Personen vorbehalten, bei denen der Entstehung von Krankheiten vorgebeugt werden soll. Die neue Formulierung würde nun Personen in die Primärprävention einbeziehen, die bisher in den Bereich der Sekundärprävention fielen, bei der es definitionsgemäß um die Früherkennung bzw. Verhinderung der Progredienz einer Erkrankung geht. Dieser Sachverhalt gibt Rätsel auf und bedarf dringend einer Klärung. Inwieweit es dem GKV-Spitzenverband als Herausgeber des Leitfadens ernst ist mit der neuen Regelung, ließe sich ganz einfach überprüfen: Es wäre doch ein spannender Versuch, wenn Ernährungsfachkräfte bei der zentralen Prüfstelle Prävention (ZPP) Anträge für Maßnahmen einreichen würden, die sich auf die neue Zielgruppe beziehen. Man darf gespannt sein, was passiert, wenn das tatsächlich die ersten versuchen.
Die “Nutzung bzw. Bewertung” eines neuen Leitfadens macht stets einen 6-monatigen Übergang und damit weitere 6-monatige Gültigkeit des “alten” Leitfadens aus. Dieser Kontext der Gültigkeit und die Übergangszeit stehen im Eingangstext der Leitfäden. Die Zentrale Prüfstelle Prüvention agiert derzeit – und das bis ca. August 2017 – völlig korrekt.
Diese Mitteilung bekam ich heute – 6.3.2017
“Beschreibung/ Beschreibung der Zielgruppe:
Laut dem Leitfaden Prävention 2014, nach dem wir aktuell in der Prüfung vorgehen, dürfen nur Personen ohne behandlungsbedürftige Erkrankungen des Stoffwechsels oder psychische (Ess-)Störungen teilnehmen. Bitte passen Sie Ihre Angaben in der “Beschreibung” und “Beschreibung der Zielgruppe” entsprechend an.”
Na das heißt dann wohl, dass die ZPP über die Köpfe der GKV hinweg entscheiden darf, nach welchem Leitfaden “aktuell” bei der Prüfung vorgegangen wird! Der aktuelle ist jedenfalls nicht der aktuelle! Ob das wohl im Sinne der GKV ist?
Ich habe soeben einen Vorstand einer Krankenkasse darüber informiert…. und er hat aufgehorcht….
Und – kann mir jemand sagen, was diese “Fachberaterinnen” der ZPP für eine Qualifikation haben? Was sind das für Leute, die scheinbar unter dem Deckmantel der “Qualitätssicherung” dafür sorgen, dass Versicherte der GKV in großem Stil vor qualifizierten Fachkräften, unserer Kompetenz und unseren Angeboten geschützt werden sollen?
Früher wollte man Zahlen und Effektivitätsnachweise von uns…jetzt haben wir sie…jetzt dreht man Sätze einfach so um, wie es einem passt….damit wir wieder gegen Windmühlen rennen….Nur wozu soll das GUT sein? Für Versicherte mit Sicherheit NICHT, denn das führt dazu, dass sie scharenweise Scharlatanen und Möchtegern-Beratern auf den Leim gehen…DIE scheren sich nicht um einen Leitfaden und auch nicht um eine ZPP Zertifizierung, die machen einfach…..was sie wollen…weil keiner diese Leute stoppt…
Ist das nicht Alles vollkommen grotesk?
Vielleicht gab ein Gespräch den Anstoß die Zielgruppe für die Adipositasanprävention neu zu definieren.
Ich behaupte, in unserem Beratungsalltag gibt es die “Gesunden” wie die WHO-Definition diese beschreibt, nicht. Unser Klientel verfügt über epigenetische, genetische und/oder erworbene Stoffwechselimbalanzen. Diese gilt es zu erkennen und in den Kontext auch des primärpräventiven Beratungsalltages einfließen zu lassen. Nur so können wir ein erfolgreiche und nachhaltige Prmärpävention betreiben.
Apropo Ergebnisqualität, die die GKV als Anbieternqualifikation voraussetzt, auch hier könnten Erweiterungen des Präventionsleitfadens erfolgen. Beispielhaft “Gewichthalten” über einen längeren Zeitraum nach einer Gewichtsreduktionsphase. Ein wichtiges Kriterium, gehört auch zur Primärprävention, denn nur so kann die Ergebnisqualität der Gewichtsreduktion auch erfolgen!
Danke für diese ausführliche Zusammenfassung und Erläuterung des Leitfadens. Ich bin gespannt!
In der Tat wäre das ein wesentlicher Fortschritt – wissen wir doch seit vielen Jahren, dass der BMI per keine gute gesundheitliche Prognose ermöglicht und etwa ein Viertel der “Normalgewichtigen” in Wirklichkeit fettleibig ist (und diese Kandidaten nur deshalb relativ wenig wiegen, weil sie viel zu wenig Muskelmasse haben), eine Fettleber aufweist (die metabolische Störungen auslöst) und entsprechend das metabolische Syndrom ausprägt und tatsächlich eine Gruppe von Hochrisiko-Patienten ist.
Wenn dann demnächst der Leitfaden Prävention auch noch die veränderte Position der DGE berücksichtigen würde, die von Frau Prof. Arens-Azevedo, aktuelle Präsidentin der DGE, angekündigt ist (https://www.change.org/p/bitte-unterstützen-sie-uns-mit-ihrer-unterschrift-in-unserem-bestreben-die-aktuell-durch-die-dge-empfohlene-nährwertrelation-der-proteine-fette-und-kohlenhydrate-diskussion-über-modifizierung-der-aktuellen-dge-nährwertrelationen/u/19152428?utm_medium=email&utm_source=notification&utm_campaign=petition_update) und die verspricht, dass die primärpräventive Ernährungsberatung flexibel mit dem Fokus auf persönliche Bedürfnisse gestaltet werden kann und darf, dann wäre die längst überfällig Revolution komplett!
Das ist ein wirklich spannender und zugleich irritierender Sachverhalt. Zeitnahe Diskussion und Klärung halte ich für unumgänglich.