Das ist bitter. Gibt es denn inzwischen keine Überzeugung der Ernährungswissenschaften mehr, zu der es nicht mindestens eine Studie gibt, die das Gegenteil zu beweisen glaubt? Jetzt scheint wieder eine Bastion gefallen: die These, dass eine langsame Gewichtsabnahme Crash Diäten mit schneller Gewichtsabnahme grundsätzlich überlegen ist, weil schnell verlorenes Gewicht auch schneller wieder zugelegt wird, kommt durch eine australische Studie ins Wanken.
Katrin Purcell, Ernährungswissenschaftlerin an der Universität Melbourne und Autorin der Studie, berichtet im Wissenschaftsmagazin Lancet, eine schnelle Abnahme führe vielmehr dazu, dass das Zielgewicht mit größerer Wahrscheinlichkeit erreicht und die Diät besser durchgehalten werde. Da macht sich unter den Experten sicher Ratlosigkeit breit.
Müssen wir jetzt allen Dicken raten: Leute, macht die nächstbeste Crash Diät? Da bleibt nur die Hoffnung auf die nächste Studie, die sicher wieder das Gegenteil beweisen wird. Denn was sind schon 204 Probanden (alle mit einem BMI zwischen 30 und 45). Und wer weiß, was Frau Purcell denen fürs Durchhalten versprochen hat. Es klingt auf jeden Fall fast stolz, wenn in der Zusammenfassung der Ergebnisse bei Lancet steht: “These findings are not consistent with present dietary guidelines which recommend gradual over rapid weight loss, based on the belief that rapid weight loss is more quickly regained.”
Ich bin jetzt seit 35 Jahren im Geschäft und das Abnehmen mit Formuladiäten gab es immer und stand auch immer in der Kritik. Wenn ein neues Pulver auf den Markt kam, dann war der Hype groß, die Geldbörsen leer und die Klienten saßen bei mir in der Beratung weil das Jojo gnadenlos zurückgeschlagen hatte.
Letztendlich war auch meist der eintönige Geschmack des Pulvers (egal, von welchem Hersteller) ein Knackpunkt um mit dieser Art des Abnehmens aufzuhören.
Zum Abnehmen mit Fomulardiäten (ich persönlich bin kein Fan davon, evtl. lasse ich es als Initialzündung, als Einstieg für eine kurze Zeit durchgehen) gehört eine qualifizierte Begleitung. Nur wer bezahlt die? Die Formuladiäten müssen selbst bezahlt werden und dann noch eine Ernährungsfachkraft dazu? Das wird zu teuer. Und dann kommt es im schlimmsten Fall zu dem Szenario, was die Kollegin Woskowski beschreibt.
Ich bezeichne mich auch als lernfähig, aber in diesem Fall bin ich sehr zwiegespalten.
Sehr geehrte Frau Woskowski,
Ihre Bedenken sind natürlich berechtigt. Eine gute Langzeit-Betreuung wäre sinnvoll. Deswegen sind meiner Meinung nach die Mahlzeiten-Ersatz-Konzepte, bei denen man mit reiner Formula beginnt und unter Betreuung Stufe um Stufe “normale” Mahlzeiten mit natürlichen Nahrungsmitteln einbaut und bei denen eine Langzeitbetreuung prinzipiell angeboten wird am sinnvollsten.
Grüße,
Nicolai Worm
Hallo meine Herren,
Da ich Ihre Erläuterungen mit Interesse verfolgt habe, möchte ich nun auch meine Meinung an den Mann bringen und vor allem eine schwierige Thematik aufgreifen, die bei den meisten Studien gar nicht beachtet wird. Wer im Bereich Essstörungen tätig ist, wird häufig mit diesem Thema konfrontiert. Abnehmbegeisterte Übergewichte, die auch schnell ins Gegenteil umschlagen können. Wenn mit Formulardiät oder auch Crash Diät sehr rasch und viel abgenommen wird, ist dies dann nicht eine sehr starke Überbelastung der Psyche? Zuerst ist natürlich die Begeisterung über den Erfolg zu verzeichnen, aber schon bald kann daraus ein richtiger Wahn entstehen. Sehr häufig sieht man hier leider einen Zusammenhang und ich denke, dies sollte in der Ernährungsberatung mit berücksichtigt werden. Wir sind nicht nur dafür da, dass Klienten abnehmen können – sondern auch, um Ihnen einen gesunden und genussvollen Umgang mit dem Essen zu erlernen und Ihr Wohlbefinden zu steigern. Wie klappt dies mit Formulardiät oder Crash Diät? Aus Erfahrung sehe ich, dass Klienten, die gemerkt haben, dass ihre Strategie (ob Crash Diät oder Formulardiät) gut funktioniert, nicht sehr gewillt sind, dies zu ändern. Dadurch haben sie aber noch immer keine Veränderung in Ihrem Essverhalten geschafft und werden früher oder später damit konfrontiert, dass sie keine weiteren Erfolge verzeichnen. Vor allem kann die Gefahr bestehen, dass Klienten sich zu einseitig ernähren und vor allem dabei Muskulatur abnehmen, statt wie gewünscht Körperfett. Hier kann es dann dazu kommen, dass Klienten immer mehr ins Extreme rutschen und sich hier eine weitere Problematik entwickelt.
Diese sieht man auch häufig im Bereich der bariatrischen Chirurgie, wo bei Studien (die dies untersucht oder erhoben haben) die Selbstmordrate nach sehr großer Gewichtsreduzierung stark angestiegen ist. Deshalb denke ich, dass unsere Klienten weit mehr benötigen als nur eine Empfehlung “Crash Diät” oder “Formular-Diät”.
Unsere heutige evidenzbasierte Medizin hat einen Nachteil – in einer Studie werden immer nur Teilbereiche beleuchtet und Werte analysiert, aber steht hier noch der individuelle Mensch im Mittelpunkt? Empfehlungen für die Allgemeinheit können nicht für Jeden passen, oder? Außerdem brauchen Studien Geld und deshalb werden diese wohl eher von Firmen mit Formulardiäten unterstützt, als vom Obstbauern in der Region!
Lieber Friedel,
als ich Deine Meldung in meiner Mailbox las, wollte ich gleich in die Tasten hauen und antworten – jetzt sehe ich hier, dass Nicolai Worm schneller war (wie immer ;-)) und die Datenlage bereits erläutert hat.
Es ist halt auch für Oecotrophologen durchaus sinnvoll, sich gelegentlich mit Studien zu beschäftigen (wozu wird sonst eigentlich geforscht). Man verzeihe mir den Sarkasmus, aber häufig vorgebrachte “ach naja, Studien gibt es viele, und stets widerlegt eine die andere” stimmt halt oft so nicht.
Nix für ungut, Grüße Uli
Sowieso nix für ungut – bin doch lernfähig, da ich noch nie ein Besserwisser war 🙂
Lieber Herr Mühleib,
schön, dass Sie diese neue Studie aufgreifen! Entgegen Ihrer Bedenken, bestätigt sie in der Tat nur alt bekanntes Wissen! Dass Wissen sich nicht immer gegen Vorurteile durchsetzen kann, ist aber auch nichts Neues… 🙂
Es gibt eine wunderbare, empfehlenswerte Übersichtsarbeit von führenden Adipositas-Forschern “Myths, Presumptions, and Facts about Obesity” im New England Journal of Medicine https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMsa1208051
Dort heißt es unter Mythos # 3: “Large, rapid weight loss is associated with poorer long-term weight-loss outcomes, as compared with slow, gradual weight loss.”
Dass es eben nicht so ist, wurde bereits im Jahr 2000 in einer Übersichtsarbeit zu kontrollierten Studien mit “Crash-Diäten” (600 +/- kcal mit Formula) festgestellt: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3780395/pdf/nihms512031.pdf
https://onlinelibrary.wiley.com/store/10.1046/j.1467-789x.2000.00004.x/asset/j.1467-789x.2000.00004.x.pdf?v=1&t=i1k9llit&s=1c3f2e630ba9f3c79ed1e29a5dd3c573b4da60fe
Auch eine recht aktuelle Meta-Analyse belegen, dass starke, schnelle Gewichtsabnahmen keinesfalls zu schnelleren und stärkeren Gewichtszunahmen führt, sondern im Gegenteil dass damit im Gegenteil nach eineinhalb oder zwei Jahren immer noch ein größerer Gewichtsverlust zu beobachten ist. Übrigens ist meist auch die Compliance besser, offenbar weil es den Leuten leichter fällt sich auf so ein einfaches Konzept, bei dem man nicht denken, schalten und walten muss, einzulassen.
https://ajcn.nutrition.org/content/99/1/14.full.pdf
Ich weiß natürlich, dass Formula-Diäten in Kreisen der Ernährungsberatung mit Argwohn betrachtet und meist pauschal abgelehnt werden, weil sie “unsympathisch” sind und weil sie Ernährungsberatung weitgehend überflüssig machen. Aber so ist nun mal die “beste Evidenz”!
Und wer die neue, oben vorgestellte Studie aus dem Lancet haben will, möge mich mit email anschreiben!
Vorurteilslose Grüße 😉
Nicolai Worm
… und die oben versprochene Meta-Analyse der Very Low Energy Diets (mit Forumula), zeigte, dass eine schnelle und starke Gewichtsabnahme auch nach einigen Jahren den größeren Gewichtsverlust ermöglicht, ist im Jahre 2001 erschienen und auch frei downloadbar:
https://ajcn.nutrition.org/content/74/5/579.full.pdf
Grüße,
Nicolai Worm
Dann kann ich mich also endlich auch von meinem kleinen schlechten Gewissen befreien, das ich als alter Freund von Fastenkuren (nie des Gewichtes wegen – grundsätzlich aus kontemplativen Gründen) immer wieder angesichts der vielen Aussagen zur Schädlichkeit von ‘Nulldiäten’ hatte. Wobei Fasten für mich allenfalls kalorisch etwas mit dem unschönen Begriff Nulldiät zu tun hat. Das Wort hört sich so nach Nullen an – und könnte auch die Person meinen, die sich dem unterzieht.