Tellerrand-Serie zum Month of the Brain: Übergewichtige Frauen ticken anders. Darauf deuten geschlechtsspezifische Unterschiede in Hirnstruktur und Verhalten bei Übergewicht hin.
Übergewichtige Frauen verhalten sich deutlich risikofreudiger – und damit gleichzeitig auch kurzsichtiger als normalgewichtige Frauen. Zu diesem Schluss kommt eine Studie am Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Zusammenarbeit mit dem Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum für Adipositas-Erkrankungen, die zum ersten Mal Hirnstruktur und impulsives Verhalten bei normal- und übergewichtigen aber sonst gesunden Männern und Frauen vergleichend gegenüber stellt. „Im Prinzip spiegeln die Ergebnisse den Alltag und damit auch das Essverhalten wider. Wer sich eher für den Sofortgewinn entscheidet, denkt weniger an die langfristigen Risiken.” so die Autorin der Studie, die Neurobiologin Dr. Annette Horstmann.
Welche Rolle spielt unser Gehirn bei der Entstehung von Übergewicht? Was den Zusammenhang von Gehirnstoffwechsel und Ernährungsverhalten betrifft, sind erst einige Mosaiksteine des großen Puzzles enträtselt. Trotzdem sind sich die Gehirnforscher einig, dass der Schlüssel für die Entstehung der Adipositas im Gehirn liegt. Ein Grund dafür, dass die Mechanismen und Auswirkungen von Übergewicht in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Hirnforschung treten. Dabei zeigten die Leipziger Forscher mit ihrer Arbeit zum einen auf, wie groß die Unterschiede in Hirnstruktur und Spielverhalten zwischen übergewichtigen und schlanken Personen generell und speziell auch zwischen den Geschlechtern sind.
Die Leipziger Neurobiologin Dr. Annette Horstmann hat ihre Versuchspersonen dazu in eine Art virtuelles Kasino geschickt, in dem die Teilnehmer nach Lust, Laune und persönlichem Risikoempfinden zocken sollten – bei einem computergestützten Kartenspiel mit dem Namen „Iowa Gambling Task“. Der Spieler hat dabei die Möglichkeit, zwischen zwei Spielkartenstapeln mit unterschiedlichen Erfolgs- und Risikoaussichten zu wählen. Die übergewichtigen Frauen im Test waren am risikofreudigsten – und damit gleichzeitig auch kurzsichtiger als normalgewichtige Frauen: Die dicken Frauen wählten überproportional häufig den Stapel, der zwar zu hohen Sofortgewinnen, aber auch zu einem negativen Langzeitergebnis führte. Während normalgewichtige Frauen im Laufe des Spiels lernten, den Stapel mit Langzeitverlusten zu vermeiden, blieben die übergewichtigen Frauen bei ihrer impulsiven Strategie.
“Diese Personen neigen dazu, sich kurzfristig durch übermäßiges Essen Befriedigung zu verschaffen. Schlanke Frauen hingegen beweisen häufiger Weitsicht. Sie vermeiden langfristige negative Konsequenzen, auch wenn diese kurzfristige Belohnung versprechen.“ kommentiert Annette Horstmann ihre Versuche. Den Ursachen für diese Unterschiede im sogenannten belohnungsabhängigen Entscheidungsverhalten kamen die Wissenschaftler bei der Untersuchung der Gehirnstruktur mit Hilfe des Magnetresonanztomographen auf die Spur: Sie stellten fest, dass Hirnstrukturen, die an der kognitiven Verhaltenskontrolle beteiligt sind, vor allem bei übergewichtigen Frauen verkleinert sind. Im Gegensatz dazu waren bei übergewichtigen Menschen diejenigen Hirnstrukturen vergrößert, die als Sitz des Belohnungssystems gelten. Adipöse Menschen haben in dieser Region, die für die Verarbeitung von Nervensignalen verantwortlich ist, mehr graue Substanz als Schlanke Zudem ist der Hypothalamus, eine Hirnregion, die in die hormonelle Steuerung von Hunger- und Sättigungsempfinden eingebunden ist, bei übergewichtigen Männern und Frauen vergrößert.
Insgesamt deuten die Befunde darauf hin, dass die Gehirne von dicken Frauen anders arbeiten als die von schlanken, was vermutlich die Ursache für das veränderte Spiel- und Risikoverhalten ist. Horstmann: „Ähnliche strukturelle Veränderungen des Gehirns sind aus Studien mit Frauen, die an Ess-Brechsucht, der Bulimie, leiden, bekannt. Dies lässt darauf schließen, dass die Unterschiede in der Hirnstruktur nicht mit Übergewicht, sondern generell mit einem veränderten Essverhalten einhergehen.” Ob das veränderte Essverhalten und die eingeschränkte Impulskontrolle diese strukturellen Veränderungen hervorrufen oder umgekehrt, ist noch unklar. Ziel von Horstmann und ihren Leipziger Kollegen ist es, die Ursachen von Essstörungen besser zu verstehen und aus den Erkenntnissen neue Therapieansätze zu finden.
Übrigens: Aus den Ergebnissen der Wissenschaftler muss man schließen, dass Männer – ob dick oder dünn – alle kleine Zocker sind. Bei ihnen konnten die Wissenschaftler keinen Unterschied im Spielverhalten zwischen Normal- und Übergewichtigen erkennen. Ihr Risiko- und Spielverhalten glich über alle Gewichtsklassen hinweg generell dem der übergewichtigen Frauen. Schade – das wäre doch mal eine schöne Erklärung für das Verhalten von Deutschlands bei Bestätigung des bestehenden Verdachtes vermutlich größtem (offenkundigen) Steuersünder gewesen: Wäre der dicke Herr Hoeneß dünn geblieben, hätte er nie gezockt. Und ohne die Zockerei hätte er keinen Grund zur Steuerhinterziehung gehabt. So muss man leider befürchten: Auch ein dünner Hoeness hätte gezockt und…?
Genau das sage ich doch. Ich habe eine These, die ich nicht beweisen kann, doch ich sage sie hier mal laut: Würden wir den Menschen von Heute auf Morgen ihr Essen als Notfallmedikament wegnehmen, die Psychiatrien wären voll….
Wie sagte mir letzte Woche eine Frau, die vor einer Magenband-OP steht.”Die sagten mir, ich hätte dann keinen Hunger mehr.” Ich fragte:”Essen Sie denn zuviel, weil sie Hunger haben, oder vielleicht, aus (G)Lust?” Sie sagte: “Aus Glust natürlich – ist das nicht dasselbe.” “Hunger ist im Bauch. Kennen Sie Bauchhunger?” Sie antwortete. “Nein, das kenne ich nicht. Mein Hunger hat mit Bauchhunger nichts zu tun. Ich denke an Essen und muss es unbedingt haben.” Ich sagte ihr: “Dieses Gefühl geht aber durch die Operation nicht weg. Ihre Gefühle, aus denen sie zum Essen greifen werden bleiben, nur – dann können Sie nicht mehr so viel essen, dass es ihnen wieder gut geht.” Sie sagte: “Dann kann ich nicht mehr essen, wenn es mir schlecht geht? Was mache ich dann? Mir geht es so häufig schlecht. Das ist ja furchtbar! Das sagte mir niemand.”
Liebe Marianne, nicht ein Hirnforscher hat diese “Überlebensstrategie” entdeckt. Wer mit adipösen Menschen arbeitet, weiß das seit vielen Jahrzehnten…
Fakt ist: Es wird keine allgemeingültige Adipositastherapie geben weil es a.) DEN Adipösen nicht gibt und b.) Adipöse Menschen nur Eines gemeinsam haben: Sie sind verschieden!
Aber: Wer hat schon Lust auf Einzelbegleitung. Sie fordert nicht nur den Betroffenen, sondern auch den Begleiter. Und obendrein ist die Gießkannen-Kurskonzeptstrategie doch lukrativer. Scheitert der Patient, kann man ihm ja nochmal dasselbe verkaufen…
Ich kann die obige Patientin gerade mal 3 Zeitstunden betreuen, danach ist die Bezuschussung der Kostenträger zu Ende. Geld für die OP ist aber offenbar genug da, ebenso wie für die Psychotherapie, die irgendwann notwendig wird, wenn die Frau ihre Schokolade verflüssigt, nicht, weil ihr HIRN es ihr befiehlt, sondern weil Sie keine anderen Strategien kennt, um sich Gutes zu tun.
PS. Genau wegen deines letzten Satzes arbeite ich phänomenologisch hermeneutisch – auch eine Wissenschaft, aber eine, die nicht der Wissenschaft, sondern dem Einzelnen dient.
Danke Sonja. Ich stimme Dir in allem zu. Einen wichtigen Punkt (von vielen wichtigen, die Du ansprichst) ist unsere Wortwahl, die alles diskriminiert, was gerade nicht zum Zeitgeist passt. ÜBERgewicht impliziert unnötigen Ballast, den es abzuwerfen gilt. Warum? Was ist, wenn die Pfunde eine Überlebensversicherung sind, wie es der Hirnforscher (Entschuldigug, liebe Sonja) in seiner Selfish-Brain-These dargestellt hat? Sogesehen wäre es eine sehr kluge Maßnahme des Körpers, sich vor schlimmeren Stresserkrankungen und vorzeitigem Ableben zu schützen. Dann könnte man das ÜBER stehen lassen und es ÜBERLEBENSgewicht nennen. Im letzten Jahr wurde durch die Peters-These ein Paradigmenwechsel bei der Bewertung von Übergewicht eingeleitet. Das scheint zur Zeit im Sande zu verlaufen, vielleicht weil es nicht zum sehr lukrativen Adiposits-Kampfmarkt passt? Vielleicht auch, weil es wieder nur einen Teil des Problemes zum Ganzen machte?
Lach. Ich möchte mich Marianne anschließen und ergänzen. Die “Hirnforschung” besagt, dass das HIRN die Ursache ist, die Gründe dort zu finden seien…Ist das tatsächlich so?
Finden wir die Gründe im HIrn? Finden wir unser Handeln im HIrn, unsere Gedanken, Gefühle? Der alte Aristoteles würde sich bei solch einer eindimensionalen Sicht auf die Welt wohl im Grabe umdrehen.Er verstand deutlich mehr von den Gründen, als der Scientismus von heute.
Wieso fragt eigentlich niemand, seit wann es diese Sicht auf die Phänomene gibt? Sie ist noch nicht einmal 200 Jahre alt! Sind wir mittlerweile so sehr abgestumpft, dass wir das GANZE nicht mehr sehen können?
Wir DENKEN nicht im HIrn, sondern bei den DINGEN. Nicht unser HIRN handelt, sondern WIR, jeder Einzelne. Und – ich finde es erstaunlich, dass niemand hinterfragt, ob denn die Gehirne ANDERS arbeiten, oder im Hirn GEMESSEN wird, WIE Frauen anders handeln….Es wird einfach behauptet die Sache mit Huhn und Ei gäbe es in beide Richtungen…(“Ob das veränderte Essverhalten und die eingeschränkte Impulskontrolle diese strukturellen Veränderungen hervorrufen oder umgekehrt, ist noch unklar”). Auch erschreckend ist, dass niemand auch nur ansatzweise hinterfragt, wozu denn diese “Belohnungen” im Einzelfall GUT sind, sondern das sofort in eine “Falsch-Schublade” gesteckt wird, obwohl Pädagogen bereits vor über 100 Jahren in jedem Verhalten einen positiven Nutzen erkennen konnten?
“Belohnungsabhängiges Entscheidungsverhalten” wird mal wieder als NEGATIV betrachtet und daraus eine “eingeschränkte Impulskontrolle” gemacht….dabei ist der Mensch, auch der Dünne permanent auf “Belohnung” aus….Auch Aufmerksamkeit, Aufsteigen auf der Karriereleiter, den Marathon schneller rennen, als vorher, sich über Sex eine Belohnung holen, sich ein paar Schuhe kaufen, sich eine Kippe anzünden, sich das Glas Wein munden lassen, sich von anderen bedienen lassen, im Golf sein HC zu verbessern, ist “Belohnungsabhängiges Verhalten” und mit Verlaub, was bedeutet der Stempel “eingeschränkte Impulskontrolle”? Da wird ein Verhalten SOFORT zum menschlichen Defizit erklärt…Ich frage mich ernsthaft: WOZU wird das genau so gemacht? Was bezweckt man mit diesen Deutelungen, die einer seriösen Wissenschaft nicht angemessen sind? Was wäre, wenn die Alternativen NOCH SCHLIMMER WÄREN? Was wäre, wenn diese Menschen sehr klug sind und sich wenigstens einer schnellen Belohnung versichern? Kennen die Hirnforscher die Ursprünge dieser Strategie im jeweiligen Leben?
Und wurden streng wissenschaftlich alle ALLE möglichen Gründe erforscht und das gesamte Subjekt der Forschung (der Mensch!) intensiv befragt?
Wir wissen längst, dass der Mensch nicht Marionette seiner Gene ist, sondern auch die Gene sich ändern, wenn sich der Mensch ändert, wieso sollten wir ausgerechnet Sklave unseres HIrns sein und Hirnforscher Glauben schenken, die, da auch Sie Hirnträger sind eben auch nicht über ihren eigenen Hirntellerrand blicken können.
Aber das Schlimmste, das Allerschlimmste dieser vom Staat finanzierten Forschung ist für mich, dass die scheinbar so neuen Erkenntnisse keinerlei Praxistransfer leisten. Ich frage ganz offen: UND JETZT liebe Hirnforscher, was macht ihr mit den Studiensubjekten, die einzelne Namen und ganz individuelle Adipositasgeschichten haben? Was macht ihr mit “dem veränderten Essverhalten”? Und was ist, wenn übergewichtige Frauen gerade NICHT risikofreudig sind? Und was hier bei den Schlanken lobhudelnd “Weitsicht” genannt wird, könnte doch auch anders genannt werden, oder? Und was ist, wenn es seit der Steinzeit ganz NORMAL ist, dass Männer die schnelle Befriedigung, upps Belohnung einer langen Warterei vorziehen?
Diese ganzen bereits getroffenen Hirnschlüsse könnten doch auch Denk-Kurzschlüsse sein, oder?
Ich kann dazu nur Eines sagen: Es wäre an der Zeit einmal demütig einem adipösen Menschen einfach nur zuzuhören, anstatt sofort Schlüsse zu ziehen, aus Gehirnen oder sonstwie….vielleicht würde dann sichtbar, was auch in der HIrnmasse verborgen bleibt…
Jedenfalls sage ich nach vielen Tausend Beratungen von adipösen Menschen und vielen vielen Gesprächen mit schlanken oder übergewichtigen Männern und Frauen: Diese Art von Forschung ist ein IRRweg. Das “geistige Band” fehlt….Menschen sind keine Maschinen, die in Einzelteile zerlegt werden können und dann “verstanden” werden. VERSTEHEN können sich nur Menschen…Dia-logisch 🙂
Lach, irgendwie sind mir die “auf Risiko”-Menschen sehr sympathisch. Ich glaube jedoch nicht, dass das allein über die Leibesfülle zu bewerten ist. Aber witzig, wie sich das Bild so mit den Zeiten ändert. Bei Cäsar waren es noch die dicken Männer, die er lieber um sich haben wollte, weil sie das Risiko für Leib und Leben dadurch verringerten, dass sie weniger mit ihm rummeckerten.
Generell finde ich solche Meldungen außerordentlich problematisch. Wenn das Hirn im Spiel ist, wird von der Allgemeinheit schnell auf den Charakter geschlossen. Und jetzt wird Höhergewichtigen neben der allseits bekannten sozialen Kritik auch noch eine “eingeschränkte Impulskontrolle” nachgesagt. Das ist nicht gut.